Marlene Kirchner

Veterinärmedizinerin und Tierschutzombudsfrau

Die gebürtige Wienerin vertritt seit Herbst 2017 als unabhängige Tierschutzombudsfrau des Landes Vorarlberg die Rechte der Tiere im Land. In den vergangenen zehn Jahren war die Tiermedizinerin und Wissenschaftlerin an internationalen Forschungsprojekten beteiligt und hat dabei Richtlinien entwickelt, anhand derer man nachweisen kann, ob es einem Tier tatsächlich gut geht oder nicht. Diese Parameter zur Einschätzung von Tierwohl hat Marlene Kirchner zuletzt als Assistenzprofessorin für Tierwohlergehen an der Universität Kopenhagen wissenschaftlich weiter entwickelt – dort dienen ihre Erkenntnisse als Forschungsgrundlage für ein landesweites Tierschutzprojekt.

Wir treffen Marlene Kirchner im Gebäude des Umweltinstitutes in Bregenz, wo die Tierschutzombudstelle des Landes Vorarlberg angesiedelt ist.Wer in ihr Büro will, muss in den vierten Stock. Ohne Lift. In diesem Teil des ansonsten generalsanierten, grasgrünen Gebäudekomplexes aus dem Jahr 1925 ist der historische Charakter noch spürbar. Sie sei noch nicht wirklich dazu gekommen, sich hier einzurichten, meint die Tierschutzexpertin lächelnd und verweist auf ihren Schreibtisch, der – neben einem Garderobenständer und zwei Stühlen – das einzige Möbelstück in dem freundlichen Zimmerchen unterm Dach ist.

Neugierig und offen für Neues

Marlene Kirchner ist in einer – aus Sicht der Tierschützer – medial turbulenten Zeit nach Vorarlberg gekommen: umstrittene Kälbertransporte und Kritik am Umgang mit Jungvieh haben die Schlagzeilen bestimmt. Die Wissenschaftlerin hat sich davon allerdings nicht aus ihrer Ruhe bringen lassen – auch wenn es ihr nicht immer leicht gefallen ist, hat sie darauf bestanden, sich zunächst einen Überblick über ihr neues Aufgabengebiet zu verschaffen und die neue Situation seriös zu ergründen. „Ich bin sehr offen für Neues und sehr neugierig“, erklärt sie. „Vermutlich bin ich deshalb auch Forscherin geworden. Es war einfach immer schon ein Anliegen von mir, die Welt zu entdecken und herauszufinden, wie bestimmte Dinge funktionieren – sowohl im technischen und naturwissenschaftlichen, als auch im sozialen Bereich. Ich kann mich erinnern, dass das bei mir als Kind schon so war. Das habe ich mir bis ins Erwachsenwerden bewahrt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass meine Wissbegierde, dieses Verstehenwollen jemals aufhören wird.“

Gleichzeitig – oder gerade deshalb – sei sie auch ein sehr kritischer Geist. Marlene Kirchner hinterfragt viel, „auch herkömmliche Strukturen und Traditionen“, fügt sie hinzu. Sie sei einfach jemand, der gerne das Gehirn benutzt, gerne denkt. „Ich bin sehr aktiv, nehme aktiv wahr und verarbeite auch aktiv. Das Passive liegt mir nicht so, da bin ich vielleicht auch zu ungeduldig. Ich tu mir schwer damit, Dinge abzuwarten, und ich muss mich öfter einmal richtig selber zähmen, um auch mal ein bisschen auszuruhen oder auch einmal auf der Stelle zu treten. Um mich selbst wieder ein bisschen runter zu bekommen, brauche ich allerdings schon sehr viel Kraft…“

Foto: ©Marlene Kirchner

Marlene Kirchner findet ihren Ausgleich beim Besuch von Kulturveranstaltungen und sportlichen Aktivitäten. „Für beides“, sagt sie, „bietet Vorarlberg schöne Möglichkeiten“.

Foto: ©Marlene Kirchner

Die Kindergartenpädagogin

Marlene Kirchner ist gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einer Altbauwohnung im 8. Wiener Gemeindebezirk aufgewachsen, „also in einer bürgerlichen Gegend“. Bereits nach den ersten Jahren im Gymnasium habe sie gemerkt, dass „das Humanistische“ nicht ganz zu ihr passt: „Ich habe nach der vierten Klasse kapituliert und gemeinsam mit einer Freundin die fünfjährige Ausbildung zur Kindergartenpädagogin mit Matura gemacht. Ich habe mir damals den Lehrplan angesehen, und das hat mich alles sehr interessiert. Die Aussicht, nach der Schule die Möglichkeit zu haben, entweder gleich zu arbeiten oder noch weiter zu studieren, hat mich dann auch bald überzeugt.“ Marlene Kirchners Mutter war übrigens ebenfalls lange Jahre als Kindergartenpädagogin tätig.

Die Bildungsreferentin

Nach der Matura hat sie dann auch gleich zu arbeiten begonnen, sie bekam eine Stelle als Bildungsreferentin bei der Katholischen Jungschar in Wien. „Ich habe Jugendliche und junge Erwachsene darin ausgebildet, Kindergruppen zu leiten. Wir haben dort auch eine Zeitschrift heraus gegeben, für die ich die Redaktion übernommen habe.“ Insgesamt war Marlene Kirchner sechs Jahre lang bei der Jungschar, wobei sie die letzten zwei Jahre das dazugehörige Bildungshaus „Burg Wildegg“ der Diözese Wien verwaltet hat.

„Im letzten Jahr habe ich parallel dazu bereits ernsthaft mit meinem Studium begonnen“, erzählt sie, „ich habe davor schon erfolglos Biologie studiert – nach Botanik 1, 2 und 3, also nach Pflanzenbauplänen, Pflanzenphysiologie, -Ökologie und so weiter, habe ich aber erkannt, dass das noch nicht so ganz das Wahre für mich war. Nach meinem Geschmack hätten die Tiere schon viel früher in den Fokus rücken müssen“. Über die Studienberatung ist sie dann schließlich beim Studium der Veterinärmedizin gelandet, „ wobei ich zuerst aufgrund der extrem langen Studiendauer von durchschnittlich 16 Semestern und den inhaltlich-schwierigen Hürden noch ein bisschen skeptisch war“, lacht sie. „Ich wollte dem dann aber doch eine Chance geben, hab mir die Uni angesehen und bin geblieben“. Das war im Jahr 2001. „Ich war damals gut fünf Jahre älter als meine Mitstudenten“, fügt sie hinzu.

Die Studentin mit Kind

Marlene Kirchner ist kurz nach ihrer Matura Mutter einer Tochter geworden. „Während meiner Arbeit bei der Jungschar waren die Großeltern meiner Karin sehr engagiert und haben mir viel geholfen.“ Als sie mit dem Studium begonnen hat, ging ihre Tochter bereits zur Schule. „Die Kleinkindbetreuung war damals in Österreich noch nicht so weit fortgeschritten – obwohl ich natürlich den Vorteil hatte, in Wien zu wohnen. Ich habe meine Tochter schon das eine oder andere Mal in die Vorlesung mitgenommen, was hochgezogene Augenbrauen bei den Professoren verursacht hatte. Ich habe sie auch sonst viel mitgenommen: sie ist mit mir gereist und hat viel gesehen in ihren jungen Jahren“, erzählt Marlene Kirchner. Ihre Tochter ist heute Anfang 20, hat das „Internationale Bakkalaureat“ in der Tasche und absolviert gerade ein „Freiwilliges Soziales Jahr“ in einem Altersheim. „Meine gesamte Familie war und ist vorwiegend in Bildungs- und Sozialberufen tätig“, lacht Marlene Kirchner.

Die Veterinärmedizinerin

„Mein Traum war es zunächst, so arbeiten zu dürfen wie eine Jane Goodall, die weltweite Anerkennung vor allem durch ihre Verhaltensforschung bei Schimpansen genießt. Ich konnte mir durchaus gut vorstellen, ebenfalls irgendwo im Urwald zu sitzen und Affen zu beobachten“, erzählt die 40-Jährige heute. „Bereits damals kreisten meine beruflichen Wunschvorstellungen um etwas Projektbezogenes. Gerne irgendwo in der Welt. Eine Kleintierpraxis hatte ich eher weniger im Sinn, obwohl ich neben meinem Studium immer wieder und gerne in Ordinationen gearbeitet habe. Auch die Arbeit in Kliniken hat mich sehr fasziniert.“ Der Forscherdrang der Tiermedizinerin war während ihres gesamten Studiums ungebrochen, immer wieder war sie bei wissenschaftlichen Forschungsprojekten dabei – etwa bei einem Hunde-Kastrationsprojekt auf den Kapverdischen Inseln: „Dort haben wir auch den Parasitenbefall der Tiere untersucht und eine wissenschaftliche Artikel darüber verfasst. Das alles war sehr spannend und hat mich weiter darin bestärkt, dass ich in die richtige Richtung gehe.“ Auf diesem Weg hat Marlene Kirchner ihren Schwerpunkt mehr und mehr auf Großtiere, auf landwirtschaftliche Nutztiere und Exoten gelegt: „Rinder waren übrigens jene Tiere, mit denen ich am liebsten zusammen gearbeitet habe“, schmunzelt sie.

Feingefühl und Empathie

Anders übrigens, als man vielleicht vermuten könnte, seien heute im Bereich der Großtiere mehr und mehr weibliche Tiermedizinerinnen zu finden. Und wer glaubt, dass die Arbeit mit (Groß)tieren ein roher Job ist, in dem man nicht zimperlich sein darf, der irrt: „Wer nicht empathisch ist, der kann diesen Job nicht machen“, betont Marlene Kirchner. „Man muss ja auch spüren können, was falsch läuft. Wenn man nicht einfühlsam ist, kann man die Ebene der Tiere nicht wahrnehmen. Die Tiere können mit uns Menschen ja nicht so direkt kommunizieren. Wenn man da kein Gespür hat und nicht die richtigen Techniken und Methoden zum richtigen Zeitpunkt anwendet, dann kommt man nicht weit. In diesem Beruf MUSS man sehr empfindungsfähig sein.“ Auf der anderen Seite müsse man es auch aushalten können, mitunter mit Missständen konfrontiert zu werden, „damit umzugehen, das muss man lernen“, sagt sie.

Einstieg in die Wissenschaft

Für eines ihrer abschließenden Studienpraktika hat Marlene Kirchner in der Großtierordination auf dem landwirtschaftlichen Gut gearbeitet, das zur Veterinärmedizinischen Universität Wien gehört. Dort hat sie dann von einer freien Stelle als Wissenschaftlerin an der Universität für Bodenkultur erfahren, die die Möglichkeit bot, ihr Doktorat zu machen. Die Forschungsstelle drehte sich um den Bereich „Tierwohlergehen“, der Marlene Kirchner von da an begleitet hat. „2007 hat Marlene Kirchner das veterinärmedizinische Grundstudium abgeschlossen, die Forschungsstelle angenommen und ist auf die „Boku“ gewechselt, um ihr Doktorat zu machen. „Es war ein großes Europäisches Forschungsprojekt und gleichzeitig mein Einstieg in die Wissenschaft. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Nutztierwissenschaften habe ich in dieser Zeit viel Neues gelernt, ich war dort im Anschluss dann noch vier Jahre Universitätsassistentin und ein Jahr Post-Doc. Danach haben für mich als promovierte Wissenschaftlerin sozusagen die Wanderjahre begonnen:“

Internationale Forschungsreisen

Die Veterinärmedizinerin hat vor allem in Europa, aber auch darüber hinaus in den unterschiedlichsten Ländern geforscht: „Ich habe beispielsweise Milchviehbetriebe in Rumänien, Nordirland und Spanien untersucht und dort den Status des Tierwohlergehens erhoben. Ich habe dabei glücklicherweise nicht viele Tiere sehen müssen, denen es wirklich schlecht ging. Das Bild, das sich mir gezeigt hat, war eher durchmischt: es war nicht immer alles gut auf den Höfen, aber auch nicht alles schlecht. Im Dissertationsprojekt, für das ich mit Maststieren gearbeitet habe, haben wir dann Verbesserungsvorschläge gemacht. In gut einem Drittel der Betriebe hat sich danach auch tatsächlich etwas verbessert – wobei das Ausmaß natürlich stark von den Personen abhing, die den jeweiligen Hof geführt haben. Ich habe viel gesehen und dabei gelernt, dass es eben nicht nur schwarz ODER weiß ist. Die Tierhaltung ist ein verwobenes System, in dem viele Faktoren zusammenhängen.“

Kann mir nicht vorstellen, wieder Fleisch zu essen

Im Moment isst Marlene keine Fleischprodukte. „Ich habe lange Zeit Fleisch gegessen. Aber auch da immer nur von Tieren, deren Herkunft und Halter ich persönlich kannte: es waren immer Menschen, die sich mit der Aufzucht und der Haltung von Tieren auskannten und einen hohen Level an Tierwohlergehen erreichten. Im Supermarkt habe ich sehr selten Fleisch gekauft.“ Die Tierschutzombudsfrau isst im Moment – soweit es geht – auch keine Eier und Milchprodukte. „Es ist einfach eine ethische, eine persönliche Entscheidung“, erklärt sie. „Moral ist immer etwas, das jeder Mensch für sich selbst entscheidet. Ich mag da auch niemanden missionieren, nur: für mich passt es im Moment einfach nicht, Fleisch zu essen. Ich vermisse es auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder zu dem Punkt komme, an dem ich sage: Ich möchte gerne wieder andere Lebewesen essen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je wieder zu der Überzeugung komme, dass es okay wäre, Fleisch zu essen.“

Respekt anderen Lebewesen gegenüber

Und das gilt für sie nicht nur in Bezug auf Fleisch, sondern auch für alle anderen tierischen Produkte. „Auch da ist es für mich schwierig: bei Milch etwa einfach deshalb, weil das System im Moment so ist, wie es eben ist. Und bei Eiern könnte ich es mir nur dann wieder vorstellen, wenn sie wirklich aus einem Haltungssystemen kommen, in dem die Wertschätzung den Tieren gegenüber gegeben ist: dass sie nämlich nicht nach anderthalb Jahren – wenn die Hühner nicht mehr so viele Eier legen – einfach getötet werden. Das geht schlicht gegen meine Überzeugung und gegen meinen Respekt anderen Lebewesen gegenüber. Das fühlt sich für mich nicht richtig an. Ich kann auch hier nicht die Augen verschließen vor dem, was tatsächlich passiert.“ Es wäre für sie auch nicht authentisch, betont sie. Sie könne sich nicht auf der einen Seite um Tiere kümmern und ihr berufliches Leben komplett darauf ausrichten, dann aber auf der anderen Seite einkaufen gehen und nicht darauf Rücksicht nehmen, was hinter den Produkten steckt:

Unsichtbares Leid

Denn das Hauptproblem sei die „Unsichtbarkeit“ von Tierleid und Tiersterben. „Vielerorts wird das auch bewusst unsichtbar gehalten. Dabei ist es allgegenwärtig“, bedauert sie. „Der moderne Mensch weiß nicht allzu viel über Tierhaltung, fragt auch wenig nach. Der Grund ist oft auch, dass man sich nicht das Gewissen belasten will – was ich natürlich gut nachvollziehen kann, denn es macht das Leben sehr schwierig.“ Tierische Produkte seien ja nur ein Punkt von vielen – denn wer eine Lebensweise anstrebe, durch die andere Lebewesen nicht beeinträchtigt werden, komme schnell an die Grenzen des Machbaren: „Daher muss man für sich selbst irgendwo die Systemgrenzen finden. Und die dann möglichst auch ziehen. Ich muss mir für mich selber überlegen, bis wohin ich es mir erlaube, einen Fußabdruck auf dieser Erde zu hinterlassen, wo ich mich einschränken kann, was mir persönlich wichtig ist, welche Welt ich meinen Kindern hinterlassen möchte…“

Tierwohlergehen ist messbar

Marlene Kirchner weist darauf hin, dass wir Menschen eigentlich fast jedes Tier in gewisser Weise „nutzen“ – „selbst Wildtiere, die wir als Indikator für eine intakte Natur hernehmen oder ein Eichhörnchen, das wir beobachten und an dem wir uns erfreuen. Es gibt kaum ein Tier, auf dem der Mensch nicht sozusagen seine Hand drauf hält“. Der Messbarkeit von Tierleid und Tierwohl hat Marlene Kirchner über zehn Jahre lang ihr Forschungsgebiet gewidmet. „Ich habe versucht, Parameter zu erstellen, nach denen man Tierwohlergehen messbar machen und den Status eines Tieres einschätzen kann.“

Diese Anhaltspunkte sind an verschiedene Bereiche geknüpft: es gibt beispielsweise körperliche Parameter, physiologische Funktionen etwa, die Rückschlüsse auf Gesundheit und Krankheiten schließen lassen. „Bei einer Krankheit ist das Tierwohlergehen logischerweise in der einen oder anderen Weise beeinträchtigt“, erklärt die Medizinerin. „Zudem beobachtet man das Verhalten der Tiere, ob beispielsweise biologische Fähigkeiten, die man einer bestimmten Spezies zuordnet, auch gezeigt werden können. Und man beurteilt, ob das natürliche Verhalten in all seinen Funktionskreisen ausgelebt werden kann. Und dann gibt es auch bei Tieren eine psychologische Ebene, die zeigt, wie es dem Tier in seiner Umgebung geht. Und das kann dann durchaus auch individueller sein“, berichtet Marlene Kirchner aus Erfahrung. Das sei ähnlich wie bei uns Menschen, die ebenfalls unterschiedliche Vorlieben haben. „Neuere Strömungen binden in das Beurteilen von Tierwohlergehen auch mit ein, ob die Tiere eine Wahlmöglichkeit haben – sprich: ob eine Kuh beispielsweise selbstbestimmt vom Stall ins Freie wechseln kann und umgekehrt.“

Artgerechte Haltung möglich

Es sei durchaus möglich, etwa Rinder artgerecht zu halten, wenn man sich an diese Parameter hält, betont die Wissenschaftlerin: „Wenn man beispielsweise weiß, dass Rinder sehr soziale Tiere sind, dass sie in Herden leben – die männlichen Jungtiere mehr unter sich in eigenen Junggesellengruppen -, dass die Kälber nicht am ersten Tag von der Kuh wegkommen, dass sie zwar am ersten Tag etwas abseits von der Herde gesäugt werden, dann aber bald auch mit der Herde mitgehen und –fressen, dann kann es durchaus funktionieren! Ich kenne Betriebe, in denen bereits Rinderhaltungen mit einer Art Ammenaufzucht betrieben wird. Dort werden die Kälber noch natürlich gesäugt – auch in der Milchwirtschaft! Ich habe Betriebe gesehen, die vorbildliche Kompromisse zum Wohl der Tiere eingehen“, bekräftigt die Tierwohlexpertin.

25 Millionen Schweine im Jahr

Spannende Ansätze in Richtung „Tierwohl“ hat Marlene Kirchner beispielsweise in Dänemark erlebt, wo sie ab 2014 als Assistenzprofessorin an der Universität Kopenhagen tätig war:„Ich hatte dort in den vergangenen dreieinhalb Jahren ein riesiges, intensives und spannendes Projekt zu betreuen: die Dänen wollen nämlich den Tierwohlstatus von allen Milchvieh- und Schweinebetrieben im ganzen Land erheben.“ Dazu müsse man wissen, dass Dänemark auf diesem Gebiet ein Exportland ist und dafür rund 25 Millionen Schweine im Jahr mästen und verkaufen. „Das sind fünfmal so viele Schweine wie Dänen“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Die Bevölkerung war sehr besorgt, dass durch diese industrialisierte Landwirtschaft das Tierwohl komplett auf der Strecke bleibt. Der damalige Minister für Tierwohlergehen, den es dort gibt, hat daher dieses Projekt gestartet.“

Marlene Kirchner und ihr Team haben die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Erhebung vorbereitet. „Das Projekt ist abgeschlossen, jetzt ist es Sache der Politik, es auch umzusetzen. Wann der Startschuss dazu fällt, steht allerdings noch nicht fest“, räumt sie ein. Mittlerweile sei ein anderer Minister zuständig – und Tierwohlergehen nicht mehr der Hauptfokus der Position… Angedacht sei jedenfalls eine Erhebung über die kommenden zehn Jahre hinweg. Eine kurze Zeit für die Wissenschaft, eine lange für eine Forscherin wie Marlene Kirchner: „Meine Motivation, wieder ein bisschen von der Forschung abzurücken, war, dass ich wieder mehr in den Anwendungsbereich gehen wollte, in den aktiven Teil. Nach zehn Jahren Forschung wollte ich wieder etwa machen, bei dem man ein bisschen schneller sieht, dass etwas weitergeht.“

Jobausschreibung in Vorarlberg kam zur rechten Zeit

„Es war eine sehr strenge, aber wunderschöne Zeit in Dänemark“, schwärmt Marlene Kirchner im Rückblick: „ Ich hatte ein sehr flexibles Arbeitsleben. Da war es auch kein Problem, wenn ich beispielsweise für zehn Tage im Monat in Wien bei meiner Tochter war, die als damals 18-Jährige nicht mit nach Dänemark kommen wollte. Die Uni in Kopenhagen unterhält ein internationales Haus, ich wurde gut herangeführt an das Leben in dem für mich natürlich komplett fremden Land.“ Die Wohnungssituation, fügt sie ein, sei allerdings eine sehr schwierige gewesen: „Ich bin allein in den dreieinhalb Jahren fünf Mal umgezogen. Es gibt nur sehr kurze Mietverträge, und es ist sehr schwierig, eine Wohnung zu finden. Zudem ist es sehr, sehr teuer.“ Weil die Studenten, die nach Kopenhagen kommen, daher immer mehr in Hotels ausweichen, werde das bereits als fixe Adresse akzeptiert, erzählt sie. „Ich habe mir zuletzt eine kleine Wohnung geteilt und mehr als 1.000 Euro monatlich allein für die Miete bezahlt. Das ist aber Standard – es geht durchaus noch teurer…“ Die Stelle hier in Vorarlberg sei für Marlene Kirchner genau zur richtigen Zeit ausgeschrieben worden: „Ich dachte zwar nicht, dass ich so schnell wieder nach Österreich zurück kommen würde“, lacht sie. „Aber für mich war Vorarlberg sehr positiv behaftet: umweltbewusst und kulturell sehr aktiv. Ich war bereits zuvor in Vorarlberg. Unter anderem bin ich mit meinem damaligen Freund eine Oldtimer- Rally rund um den Bodensee mitgefahren“, schmunzelt sie.

Fürsprecherin für die Tiere im Land

Marlene Kirchner ist am 29.September 2017 direkt von Kopenhagen nach Bregenz umgezogen, am 2. Oktober hat sie ihre neue Stelle als Tierschutzombudsfrau angetreten, in einer – wie bereits beschrieben – sehr turbulenten Zeit: „Da denkt man sich nur noch: schwimmen, schwimmen und weiterschwimmen. Von einem Tag zum anderen. Elektronische Aktensysteme kennenlernen, viele viele Hände schütteln, Kontakte knüpfen, das berufliche Umfeld erkunden. Denn ich bin in meiner Funktion zwar weisungsungebunden, ohne Teamarbeit komme ich aber nirgendwo hin.

Das Tierschutzgesetz hier“, und sie zeigt auf das dicke Buch auf ihrem Schreibtisch, „das ist sozusagen meine Hauptlektüre. Ich kannte es natürlich zwar schon vorher, aber es gibt immer wieder Neuerungen und Passagen, die ich nachlesen muss. Meine Arbeit vor Gericht ist für mich komplettes Neuland. Ich übernehme ja – wo es laut Gesetz vorgesehen ist – die Parteistellung für die Tiere, bin ihr Fürsprecher vor Gericht“. Marlene Kirchner hat bereits Stellungnahmen in Fällen von Tierquälerei abgeben müssen: „Ich vertrete beispielsweise Tiere, die misshandelt werden. Ich habe auch Parteistellung in Fällen, in denen jemand gegen die Tierhalteverordnungen verstößt: wenn jemand beispielsweise seine Tiere nicht richtig ernährt oder wenn sie zu wenig Platz haben.“

Skandal oder trauriger Alltag?

Marlene Kirchner ist zuversichtlich, dass die Bevölkerung im Ländle ein gewisses Bewusstsein hat und sensibel auf Missstände reagiert: „Ich habe in der kurzen Zeit, in der ich in Vorarlberg bin, tatsächlich eine sehr hohe Moral den Tieren gegenüber erlebt. Allerdings deckt sich das nicht immer mit den Haltungsrichtlinien im Tierschutzgesetz, denn dort ist ja nur ein Mindeststandard beschrieben, der die Grenze zur Tierquälerei definiert. Ich habe den Eindruck, dass sich viele Menschen in Vorarlberg einen höheren Standard wünschen. Nicht alle natürlich… Auch hier gibt es Menschen, die nicht wissen und wissen wollen, wie ihre Lebensmittel produziert werden…“ Jener Kälbertransport, der in ihrer ersten Zeit in Vorarlberg als „Skandal“ durch sämtliche die Medien ging, sei für viele erschreckend gewesen. „Dabei ist das trauriger Alltag. Für mich ist so etwas leider nicht neu. Ich kann mir gut vorstellen, dass all jene, denen das nicht klar ist, schockiert sind. Weil ja diese Transporte auch nicht der Lebensweise dieser Tiere entspricht. Es ist nicht artgerecht, dass die Kälber in ihren ersten Lebenstagen und -wochen von der Mutter getrennt werden, vom Menschen mit künstlichen Milchersatzprodukten aufgezogen und dann durch Europa gekarrt werden. Nur damit wir möglichst schnell und billig Fleisch und Milch kaufen können. Es ist traurig. Aber nicht neu.“

Bildungs- und Aufklärungsarbeit

Marlene Kirchner würde sich wünschen, dass sich die Menschen von sich aus dafür interessieren, woher ihre Lebensmittel kommen und wie sie produziert werden. Das würde längerfristig bewirken, dass sich mehr Menschen dafür interessieren, dass es anderen Lebewesen gut geht. „Die Bevölkerung ist da aber nun mal nicht einheitlich, die Prioritäten sind unterschiedlich. Es ist auch schwierig, den oder die Verantwortlichen festzumachen – der Weltmarkt ist ein kompliziertes, verwobenes Wirtschaftssystem“, räumt sie ein. „Auch meine Parteistellung findet im Rahmen von gerichtlichen Verhandlungen statt, eine allgemeine Parteistellung für Tiere im öffentlichen Sinn ist das ja nicht…“

Was aber durchaus Teil ihres (öffentlichen) Aufgabenfeldes ist, ist Bildungsarbeit, „und da habe ich die Möglichkeit, Aufklärung zu betreiben, was kritische Themen angeht“. Und in diesem Bereich ist Marlene Kirchner bereits wieder Forscherin: „Ich muss jetzt ausloten, was für Vorarlberg am besten passt, ich muss Mensch und Tier in diesem Land noch ein bisschen besser kennen lernen, muss herausfinden, was ihnen wichtig ist im Tier(schutz)bereich, in der Heimtierhaltung und in den Betrieben. Dann kann ich auf kritische Punkte hinweisen und mein Wissen weiter geben.“ Was ihr vorschwebt, ist beispielsweise eine Art „Kleingruppenarbeit“ im landwirtschaftlichen Bereich und in Schulen, zudem möchte Marlene Kirchner Veranstaltungen mit Information unterstützen: „Da kann ich sozusagen die Anwaltschaft für die Tiere ein bisschen ausdehnen…“

Und wir wünschen ihr dabei – im Sinne unserer Vier-, aber auch aller Zweibeiner – von Herzen ganz viel Erfolg!

Verfasst im Jänner 2018
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Übrigens – wer gleich damit beginnen will, sich mit einer spannenden Lektüre zu diesem Thema weiter zu bilden, dem legt Marlene Kirchner folgendes Werk von Frans de Waal ans Herz: „Are we smart enough to know how smart animals are?“. Und wer sich lieber ein Video dazu ansieht, dem empfiehlt Marlene Kirchner einen „TED-talk“, der „Moral bei Tieren“ zum Thema hat.

Nachtrag im Juni 2019:

Marlene Kirchner hat im Frühling 2019 ihr Amt als Tierschutzombudsfrau in Vorarlberg nieder gelegt und ist zurück nach Wien gezogen. Künftig findet man die Expertin bei der Organisation „Vier Pfoten“, wo sie für „Four Paws International“ den „Lead Expert Farm Animals and Nutrition“ übernommen hat.

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